zum 8. Mai 2023 in Hamburg

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Es gibt Tage, an denen halten wir inne – wir erinnern uns, wir gedenken.

Und wir fragen uns, was das Geschehene uns für die Zukunft auf den Weg gibt. Der 8. Mai ist so ein Tag. Wir wollen an diesem Tag zusammenkommen, um „über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit“, wie die im Juli 2021 verstorbene Holocaust-Überle-bende Esther Bejarano es ausdrückte, denn: Am 8. Mai 1945 wurden weite Teile Europas von den alliierten Streitkräften vom Faschismus befreit. Die Befreiung von der Schreckensherrschaft der Nazis beendete das systematische Ermorden und Vernich-ten, dem viele Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind: Juden und Jüdinnen, Sinti:zze und Rom:nja, politische Gegner:innen, Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ und Widerstandskämpfer:innen, darunter auch viele Gewerkschafter:innen.

Wir, die den 8. Mai als Tag der Befreiung und der Befreiten feiern, erinnern uns an die Berichte der Überlebenden zu den ersten Maitagen 1945. Und wir wollen am 8. Mai besonders an die Hoffnung der Befreiten auf eine Welt ohne Kriege, Elend und Unter-drückung erinnern und diese als Auftrag nehmen, weiter an der Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit zu arbeiten, so wie es die befreiten Häftlinge von Buchenwald geschworen haben. Ein offizieller bundesweiter Feiertag wäre dafür die regelmäßige Verpflichtung – Nicht nur, aber eben auch an jedem 8. Mai.

Wir erinnern an Wanda Edelmann.

Wie viele Sinte:zza und Rom:nja war sie im Außenlager Hamburg-Sasel inhaftiert und wurde Anfang Mai 1945 von britischen Soldaten befreit. Ohne Bleibe, blieb sie nach ihrer Befreiung noch länger in Sasel in einer ehemaligen Lagerbaracke – in einem Lager, in dem sie ihre Cousine Suleika Klein verloren hatte. Suleika war vergewaltigt und schwer misshandelt wurden. Sie starb einen Tag nach der Befreiung Hamburgs am 4. Mai 1945.

1984 berichtete Wanda Edelmann, wie sie kurz nach Kriegsende zwei ehemalige SS-Aufseherinnen auf der Straße wiedererkannte: „Und da seh ich diese SS-Weiber. […] Da hab ich geschrien: „Diese Banditinnen, haltet die fest!“, und ich habe meine Schuhe ausgezogen. Ich bin auf die Personen zugelaufen, aber die Leute haben gedacht, ich bin aus dem Irrenhaus gekommen. Ich wollte mich auf sie raufstürzen. Und die Leute haben eine Kette vor mir gemacht, ich kam nicht durch. Und da sind die beiden verschwunden. […] Wie vom Erdboden verschluckt.“ Wanda Edelmanns Hoffnung war, dass die Täter:innen zur Rechenschaft gezogen würden. Doch die Täter:innen kamen nach 1945 weitgehend ungeschoren davon. Nach den großen Prozessen, die die Alliierten führten, wurden nur noch wenige verurteilt, viele blieben in Amt und Würden, oder verschwanden „wie vom Erdboden verschluckt“.

Wir erinnern uns an Hellmut Kalbitzer.

Die Nazis hatten ihn wegen seines Widerstands gegen den Nationalsozialismus, der „Vorbereitung zum Hochverrat“ für schuldig befunden und ihn zwei Jahre im Konzentrationslager Fuhlsbüttel inhaftiert. Nach der Befreiung 1945 beteiligte er sich bereits am 11. Mai 1945 an der Gründung der Sozialistischen Freien Gewerkschaft und später am Aufbau des DGB in Hamburg. Er erinnerte sich, dass 1945 tausende Arbeiter zum Gewerkschaftshaus kamen, um Mitglied zu werden und über die Zukunft zu diskutieren. „Die Menschen waren hungrig und ausgemergelt, aber bereit, ihre Hoffnungen in die Gewerkschaft zu setzen.“

Und wir erinnern uns an Paul Bebert,

einem Bauarbeiter und Gewerkschaftsfunktionär. Er war bereits 1911 in SPD und Gewerkschafteingetreten, hatte in der NS-Zeit insgesamt 35 Monate im KZ überlebt -zuletzt war er überdies zur Zwangsarbeit verurteilt worden. Mit Hammer und Meißelschlug er am 14. September das Hakenkreuz über dem Eingang des Gewerkschaftshausesab. Die Anwesenden sangen anschließend „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“,in dem eine Strophe lautet: „Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunfthervor.“

Wir erinnern an Josef Gottlieb,

der im Juli 1945 mit überlebenden Jüdinnen und Juden zusammenkam und das „unverzügliche Wiedererstehen“ einer Hamburger jüdischen Gemeinde forderte. Eindringlich machte er schon unmittelbar nach der Befreiung klar, dass nun dringend „eine positive Einstellung zum Judentum“ erreicht werden müsse.

Wir erinnern uns an Elsa Werner.

Die jüdische Kommunistin wurde 1945 aus dem Ghetto und Polizeigefängnis Theresienstadt von der Roten Armee befreit. Wie sollte es danach weitergehen? 2005 sagte sie: „1945 war eigentlich keine Zeit großer Visionen. Und dennoch gab es sie. Für mich war es die eines friedliebenden Landes, frei von Antisemitismus, frei von Diskriminierung, eines Landes, das die Opfer der NS-Zeit mit Kleidung, Wohnung, Nahrung, Wärme umgibt, das versucht für Schäden aufzukommen, die es angerichtet hatte in Europa.“ Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht.

„Konfrontiere ich meine Visionen mit der heutigen Realität, ist das Ergebnis entmutigend. Gewiss, die BRD ist demokratisch – aber wahrhaft demokratisch? Wehrhaft demokratisch? […] Ist dies Land frei von Antisemitismus – gewiss nicht, wir wissen das. … Frei von jeder Diskriminierung? Frei von Fremdenfeindlichkeit? Es fehlt immer noch und immer wieder die Zivilcourage, die zur Demokratie gehört. Was also bleibt? Meine Vision war eine Illusion, ganz ohne Frage. Und dennoch: Ich habe […] in diesem Land gelebt und gearbeitet, es kann nicht ganz umsonst gewesen sein. Ich glaube immer noch, auch wenn es schwerfällt, an ein Stückchen Vernunft im Menschen.“ Und an uns richtete sie den Aufruf: „Ihr seid dran, diese Vernunft am Leben zu halten, die nächste, die übernächste Generation.“

Wanda Edelmann, Hellmut Kalbitzer, Paul Bebert, Josef Gottlieb, Elsa Werner – ihre Hoffnungen stehen nur exemplarisch für die Hoffnungen der Überlebenden und Be-freiten, die sich nach Jahren des Martyriums und nach dem Zivilisationsbruch des Ho-locaust fragten, wie eine Zukunft aussehen könnte. 78 Jahre nach der Befreiung sind nur noch sehr wenige Überlebende unter uns. Doch sie haben uns die Aufgabe über-tragen, ihre Erinnerungen am Leben zu halten und ihre uneingelösten Hoffnungen ein-zulösen.

Wir wissen heute,

dass die Visionen der Überlebenden immer noch hart erkämpft werden, und die Errungenschaften weiterhin verteidigt werden müssen. 2023 haben Rassismus, Chauvinismus, Antifeminismus, Antisemitismus und Antiziganismus, Islamfeindlichkeit – allesamt Ideologien zur Begründung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Ausgrenzung – Konjunktur. Gedenken bedeutet aus der Vergangenheit zu lernen und eine Vision der Zukunft ohne Faschismus, Krieg, Verfolgung und Diskriminierung zu entwickeln – besonders in einer Zeit, in der die Losung „Nie wieder Krieg“ durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die zahlreichen weiteren Kriege in der Welt brutal unterlaufen wird.

In einer Demokratie sind wir viele, wir sind weder machtlos noch ohnmächtig: Am 8. Mai und an jedem Tag ist es an uns, dass wir uns Menschenfeindlichkeit aktiv entgegenstellen. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, brauchen wir eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – dafür braucht es Zeit und angemessene Orte der Erinnerung und des Lernens. Orte, die das Gedenken an die Opfer und Verfolgten mit dem Austausch über die Perspektiven einer Welt unter dem Motto „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“ ermöglichen. Dazu müssen diese Orte in öffentlicher Hand sein, da nur so eine angemessene Erinnerungsarbeit ohne Anpas-sungsdruck an die Marktzwänge möglich ist. Gedenken darf nicht privatisiert werden!

Antifaschismus muss Grundlage unserer Gesellschaft sein!

Gerade jetzt, in Zeiten, in denen rechte Kräfte Morgenluft wittern und rechter Terror auf der Tagesordnung steht, brauchen wir eine klare Haltung. Wir brauchen einen neuen Konsens, dass Antifaschismus Grundlage unserer Gesellschaft ist und bleibt, damit rassistische und faschistische Ideologie und Gewalt in dieser keinen Platz mehr hat!

Dafür streiten wir gemeinsam am 8. Mai 2023 und an jedem anderen Tag des Jahres!


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